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„Wir sind fassungslos“ - Die aktuelle Lage in Tibet

aus dem Konstanzer SÜDKURIER vom 25. OKTOBER 2011 - Fragen von Karina Christen

Die jüngsten Ereignisse in ihrer Heimat bewegen auch die Exiltibeter. Tashe Thaktsang aus Radolfzell über die Lage in Tibet und die möglichen Motive der Mönche.

Herr Thaktsang, der brutale Protest, der sich in Tibet zeigt, passt überhaupt nicht zum gängigen, eher friedlichen Tibet-Bild. Wie kommt es dazu?
Das ist die absolute Verzweiflung. Die Situation hat sich seit 2008 dramatisch verändert. Vor allem die Klöster werden unglaublich streng kontrolliert. Dort wurden Stützpunkte eingerichtet, die man Arbeitsteams nennt. Die Mönche sind verpflichtet, sich einer Umerziehung zu unterwerfen. Dabei müssen sie den Dalai Lama denunzieren oder sich zur Einheit von China und Tibet bekennen. Die erzwungene Denunziation des Dalai Lama ist für die Mönche das Schlimmste, weil alles, was sie glauben und lernen, auf ihn zurückgeht. Das ist im tibetischen Buddhismus ein Sakrileg. In den Klöstern wird unsere nationale Identität gebündelt – das weiß China. Klöster sind das sichtbare Herzstück der tibetischen Kultur und des Volkes.

Warum entscheiden sich die Mönche für die Selbstverbrennung? Gibt es in der tibetischen Tradition ein Vorbild für diese extreme Form des Protests?
Nein, auf keinen Fall. Wir Tibeter sind selbst fassungslos darüber. Das ist für uns nicht vorstellbar, weil es eine Autoaggression ist. Die Mönche müssen über 250 Gelübde ablegen. Eins davon, ein sehr zentrales, ist: Keine Gewaltanwendung gegenüber jeglichem Lebewesen, auch nicht gegen sich selbst. Für den Buddhisten ist das Menschsein das höchste Gut im Zyklus der Wiedergeburten. Das selbst zu zerstören, ist entsetzlich. Ich hoffe, dass die Vorgänge nicht die Tür zu weiteren Protesten in dieser Form öffnen. Es werden in der buddhistischen Legende jedoch auch Momente beschrieben, in denen die bewusste Opferung seines eigenen Lebens für einen höheren Zweck respektiert wird. Diese Entscheidung fällt jeder für sich bei gesundem Verstand.

Gibt es eine bestimmte Maßnahme Chinas, die die Situation der Tibeter in diesem Jahr verschlechtert hat?
Es ist die Summe aller Ereignisse seit 2008. Da ist der friedliche Protest in Osttibet übergeschwappt auf die gesamte Region, in der Tibeter in China leben. Seitdem werden Klöster und Bevölkerung massiver polizeilicher Kontrolle unterworfen. Das ist vielleicht der Punkt, an dem die Mönche sich sagen: Das Leben als Mönch ist unmöglich geworden. Deshalb tun sie alles, damit endlich etwas geschieht. Es tut sich ja nichts. Alle Dialoge mit China blieben völlig substanzlos. Die KP hat den Dalai Lama mehrfach öffentlich verhöhnt. Das halten die jungen Mönche nicht mehr aus. Wobei man sagen muss: Das sind Tibeter, die bereits unter der chinesischen Herrschaft geboren sind.

Was ist für die Tibeter außerhalb der Klöster das größte Problem?
Die Marginalisierung der Tibeter innerhalb des eigenen Lebensraums. Durch den Bevölkerungstransfer von Han-Chinesen dominieren diese inzwischen. Dort, wo es gute Lebensbedingungen, wie fließendes Wasser gibt, leben immer mehr Han-Chinesen und sie haben es erheblich leichter, gute Wohnungen oder Konzessionen zu bekommen, um zum Beispiel ein Geschäft zu eröffnen. Unter den tibetischen Jugendlichen liegt die Arbeitslosigkeit bei 60 Prozent. Die Tibeter erleben eine grausame Apartheidpolitik.

Gibt es noch immer eine Fluchtbewegung aus Tibet?
Ja, es gibt natürlich vor allem Mönche, die versuchen, die Klöster zu verlassen und nach Indien zu fliehen. Ebenso auch Zivilpersonen. Aber die Fluchtbedingungen sind schwierig. Längst kommen nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Indien, weil die Grenze einfach erheblich undurchlässiger geworden ist.

Woher bekommen Sie Informationen aus Tibet? Unabhängige Journalisten haben keinen Zugang.
Zum Beispiel von Flüchtlingen, die es geschafft haben, nach Indien zu kommen. Manchmal sind auch Kontakte über Handys möglich. Auch der Austausch von Fotos. Wir fordern natürlich dringend, dass unabhängigen Journalisten erlaubt wird, sich ein Bild der Lage vor Ort zu machen.

Sie haben neulich vor dem zuständigen Bundestagsausschuss um Hilfe für Tibet gebeten. Was kann Deutschland tun?
Ich wünsche mir, dass die deutsche Regierung sich dafür einsetzt, dass eine Uno-Untersuchungskommission nach Osttibet geschickt wird. Ich wünsche mir, dass China daran erinnert wird, sich an seine eigene Verfassung zu halten, die ja Religionsfreiheit ausdrücklich zusichert. Dringend abgeschafft werden muss die Administrativhaft. Mit diesem Instrument werden Tibeter ohne Gerichtsverhandlung aus dem Stand ins Gefängnis geschickt. Bis zu drei Jahre. Deutschland hat letztes Jahr in einer Resolution erklärt, sich überall auf der Welt gegen die Unterdrückung religiöser Freiheit einzusetzen. Also darf man nicht die Augen verschließen – auch wenn China das nicht gefällt.

Gehen Sie davon aus, dass es weitere Selbstverbrennungen gibt, dass daraus so etwas wie eine Welle wird?
Die Gefahr ist sehr, sehr groß, und ich hoffe, dass das nicht passiert. Es ist ein qualvoller Tod. Ich würde dringend appellieren, das nicht zu tun, zumal es auch großes Leid über die Angehörigen bringt. Allerdings weiß ich auch nicht, was ich täte, wenn mein Leben von einem Apparat so brutal kontrolliert würde, wenn ich derart erniedrigt und schlimmer als ein Stück Vieh behandelt würde. Und das ist derzeit die Situation des tibetischen Volkes.